Warum wird der Nationalsozialismus plötzlich als linke Bewegung bezeichnet? Woher kommt die unvermutete DDR-Nostalgie der AfD, einer Partei, die sich selbst dem radikalen Antikommunismus verschrieben hat? Und warum präsentieren sich ausgerechnet militante Nationalisten als die neue Friedensbewegung?
Irritationen wie diese folgen einer klaren Strategie: In ihrem Kampf um die politischen Mehrheiten weiß die extreme Rechte um die Relevanz von Sprache und ihrer Deutung. Begriffe werden aufgenommen, umgedeutet, vermischt und dann wieder in den Diskurs zurückgespielt – ein Prozess, den der Historiker Volker Weiß als „Resignifikation“ beschreibt. Ziel ist es, demokratische Selbstverständlichkeiten auszuhöhlen und autoritäre Positionen kulturell mehrheitsfähig zu machen.
Der historische Diskurs als Abrissunternehmen
Volker Weiß analysiert diese zentrale Taktik der Neuen Rechten. Wenn Neonazis zu einer Demonstration „Gegen Faschismus und Intoleranz“ aufrufen, greifen sie nicht nur auf das Vokabular ihrer politischen Gegner*innen zurück und vereinnahmen es für ihre Ziele, sondern untergraben auch dessen eindeutige politische Verortung und die Erinnerung daran.
„Verschiebungen, Umdeutungen, zerbrochene Bilder sind die Mittel, mit denen der historische Diskurs als Abrissunternehmen geführt wird“, so Volker Weiß.
Auch mit Blick auf Russland sind erstaunliche Umdeutungen zu beobachten: Alte Feinde werden auf einmal zu neuen Freunden: Auf Kundgebungen singt man Friedenslieder aus DDR-Zeiten, der Begriff Antifaschismus wird verhöhnt, umgedeutet oder als linksextrem diffamiert und Waffenhilfe an die Ukraine als Kriegstreiberei verurteilt. Russland erscheint als identitätsstiftendes autoritäres Gegenmodell zum Westen: stark, traditionsverbunden und „widerständig“ gegen Vielfalt und Demokratie, die als Schwäche auslegt wird.
Ziel: die demokratische Kultur destabilisieren
Diese Form der rechten Geschichtspolitik ist nicht zufällig. Sie zielt darauf ab, zentrale Elemente der politischen Kultur der Bundesrepublik – Verantwortung, Aufarbeitung, historische Bildung – zu destabilisieren. Wer sich auf antifaschistische oder zivilgesellschaftliche Traditionen beruft, wird als ideologisch verblendet oder als Teil eines angeblich „linken Meinungsregimes“ denunziert. Die kritische Reflexion der NS-Geschichte soll delegitimiert und mit einem nationalen Mythos überschrieben werden.
Dabei geht es nicht nur um eine alternative Geschichtsschreibung, sondern tatsächlich auch darum, Verwirrung zu stiften: Bislang gesicherten Erkenntnisse sollen erschüttert, abgerissen werden. Ziel ist es, die Geschichte zu dekonstruieren, um darauf eine neue Geschichte zu rekonstruieren – und das soll eine völkisch-nationalistische Erzählung werden.
Haltung zeigen und Erinnerung verteidigen!
Wie können wir diesen Angriffen auf Sprache und Geschichte begegnen? Was bedeutet es, Begriffe nicht kampflos preiszugeben? Und wie lässt sich demokratische Erinnerungskultur gegen autoritäre Vereinnahmung verteidigen? Gemeinsam mit Volker Weiß wollen wir diese Fragen diskutieren – fundiert, streitbar, und mit Blick auf die politische Verantwortung, die aus Geschichte erwächst.
Dr. Volker Weiß ist Historiker und freier Publizist. Er forscht über die Geschichte und Gegenwart der extremen Rechten in Deutschland. Sein Buch „Autoritäre Revolte“ lieferte 2017 die erste umfassende Analyse der Neuen Rechten. Sein neuestes Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“ nimmt die geschichtspolitischen Strategien der antidemokratischen Kräfte in den Blick.
In der gemeinsamen Reihe und Kampagne #defenddemocracy stellen die Initiative Moment Mal! und das Kulturzentrum Schlachthof Wiesbaden durch hochwertige Bildungsangebote die wachsende Gefahr von Rechts in den Fokus und rufen auf, gemeinsam Freiheit, Vielfalt und Demokratie zu verteidigen.
Kulturzentrum Schlachthof Wiesbaden e.V.
Seit 1994 kollektiv und unabhängig. Gegen Diskriminierung, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Homophobie.